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Das Werden unserer Sprache.

(Aus den "Sprachlichen Plaudereien" von Hans Stringl.)

Die Sprachwissenschaft, die uns über das Werden und Wesen der Sprachen Aufschluß gibt, ist eine junge Wissenschaft; ihr Stammbaum reicht nicht viel über den Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hinaus.

Wohl ist schon um das Jahr 1700 der große Gelehrte Gottfried Wilhelm von Leibniz, ein gebürtiger Leipziger, gern sprachlichen Problemen - und deren gibt es ja genug - nachgegangen; aber als Theologe, Jurist, Historiker und Mathematiker viel in Anspruch genommen, mußte er sich in diesem Zweige auf fruchtbare Andeutungen beschränken, fand aber bei seinen Zeitgenossen dafür weder Verständnis noch Unterstützung.

Das Interesse aber, das er auch hinsichtlich der Sprachforschung wachgerufen, ist seither nie wieder erloschen. Leibniz glaubte an einen gemeinsamen Ursprung der Sprachen, verwarf aber die unrichtige, damals weit verbreitete Ansicht, daß alle Sprachen vom Hebräischen abgeleitet seien. Er wies die Forscher nachdrücklich auf den Wert der Sprachvergleichung hin und empfahl ihnen zu diesem Zwecke besonders die Erforschung der Dialekte. Auf diesem Wege wurde denn auch späterhin erkannt, wie sich die Sprachen entwickelt haben.

Den Anfang machte ein spanischer Jesuit und Missionär, der bereits das griechische Wort theos (Gott) mit dem Wort deva, das aus der alten Sprache der Inder stammt und ebenfalls "Gott" heißt, verglich; auch erklärte er das griechische Hilfszeitwort eimi, ei, esti (ich bin, du bist, er ist) für gleich (er identifizierte es) mit asmi, asi, asti aus dem Indischen und so viele andere besonders lehrreiche Beispiele.

Neue Werke folgten bald nach, welche auf die von Leibniz gegebene Anregung zurückgriffen. Wir nennen das kleine, aber wahrhaft epochemachende Buch des Dichters und Gelehrten Friedrich von Schlegel "Über Sprache und Weisheit der Inder", worin er die sprachliche Zusammengehörigkeit der Inder, Perser, Griechen, Italer und Germanen nachwies und ihre Sprachen als indogermanischen Sprachstamm bezeichnete. Wir nennen weiters die Studien des Mainzer Gelehrten Franz Bopp, der außer den oben genannten Sprachen noch das Litauische und Altslawische in den Bereich seiner Forschungen einbezog; wir verweisen auf die Werke Wilhelm von Humboldts.

Nahezu zwanzig Jahre erheischte endlich die Veröffentlichung von Grimms kolossalem Werk "Deutsche Grammatik" - für ewige Zeiten ein Wahrzeichen deutscher Gründlichkeit und deutschen Gelehrtenfleißes.

Auf dem ganzen Erdenrund gibt es nach der gegenwärtigen Annahme etwa ein Tausend lebende Sprachen. Die Schätzungen gehen indes auseinander, weil es unmöglich ist, die Grenze zwischen Sprache und Dialekt scharf zu bestimmen. In Amerika ist die Sprachverschiedenheit am größten; am geringsten ist sie indem kulturell am höchsten stehenden Europa, wo sich die Sprachen frühzeitig durch Ausbildung zu Schriftsprachen gleichsam gefestigt haben. Hier werden zweiundfünfzig Sprachen gesprochen.

Das ideale Ziel der Sprachvergleichung ginge wohl darauf aus zu zeigen, daß alle - sagen wir Tausend - Sprachen untereinander verwandt, daß ihrem Wortschatz also gewisse Elemente gemeinsam seien, die ihrerseits wieder nur aus einer Quelle flössen. Diese Quelle wäre dann als Urform aller Sprachen anzusehen. Soweit heute der Blick reicht, kann man sagen, daß dieses Ziel schwerlich je erreicht werden wird. Aber es bedeutet schon einen gewaltigen Schritt nach vorwärts, daß es der Forschung gelang, die Mannigfaltigkeit von etwa tausend Sprachen insofern zu ordnen, indem man sie in große Gruppen, Sprachstämme, einteilte.

Sprachen die untereinander verwandt sind, gehören einem und demselben Stamme an. Einen Sprachstamm, den arischen oder indogermanischen, haben wir bereits Erwähnung getan; außer diesem zählt man noch acht Sprachstämme und überdies eine beträchtliche Menge isolierter Sprachen auf, die entweder noch ganz unerforscht sind oder sich nach den bisherigen Forschungen in keinen der bekannten Sprachstämme einreihen lassen.

Die zum indogermanischen Sprachstamm gehörenden Sprachen sind die wortreichsten und grammatisch vollendesten, die eigentlichen Kultursprachen der Menschheit; von ihrer Aufzählung kann hier abgesehen werden. Nur dies sei erwähnt, daß unter den toten indogermanischen Sprachen das Sanskrit, die schon vorhin angeführte alte Sprache der Inder, der altertümlichste Hauptzweig des indogermanischen Sprachstammes ist.

Welches Mittel führt nun die Wissenschaft dazu, beispielsweise die indogermanischen Sprachen untereinander als verwandt zu bezeichnen? Darauf wurde die Antwort bereits andeutungsweise gegeben. Wir sprachen nämlich darüber, daß als Beweis dieser Verwandtschaft gewisse Elemente, die dem Wortschatz aller zusammengehörenden Sprachen gemeinsam sind, dargelegt werden müssen. Diese heißen Wurzeln, gar unscheinbare Dingerchen, und doch liegt in ihnen die Bedeutung der Wörter. Die Wurzeln sind das Ursprünglichste am ganzen Worte, und weil das Ursprünglichste auch meist das Einfachste ist, so begreifen wir, warum die Wurzeln fast immer einsilbig sind.

Da ist die Wurzel AR (die Erde aufwühlen, pflügen). Wir wollen nun zeigen, wie sich diese Wurzel den indogermanischen Sprachen dienstbar gemacht hat. Ackern, pflügen heißt im Lateinischen AR-are, im Griechischen AR-oun (sprich arún), im Litauischen AR-ti, im Gotischen AR-jan, im Althochdeutschen AR-an, im Irischen (Keltischen) AR schlechtweg. In dem russischen Worte für ackern - OR-ati ist das A zu o, in dem altenglischen Worte ER-ian zu e geworden. Dieses altenglische erian hat neuenglisch ear (sprich ír) ergeben.

Lenken wir unsere Aufmerksamkeit auf das Werkzeug, womit gepflügt wird! Der Pflug heißt im Lateinischen AR-atrum, im Griechischen AR-otron, im Litauischen AR-klas, im Wallisischen (Keltischen) AR-ad - überall die Wurzel AR.

Pflügen (als Tätigkeit) bezeichnet das Lateinische durch das Wort AR-atio, das Griechische durch AR-osis.

Der Pflüger heißt im Lateinischen AR-ator, im Griechischen AR-roter; AR-mentum ist das lateinische Wort für Pflugvieh, Ackergespann.

Im Griechischen findet man außer dem Worte AR-oma = Ackerland, auch das Wort AR-oma (mit langem o); dies ist unser Fremdwort Aroma und bedeutet ursprünglich wohlriechende Kräuter, Wurzeln, Gewürz, aber auch Feldfrüchte wie Gerste u.a., also Früchte, wie sie auf dem vom Landmann bestellten Ackerboden gedeihen. Auch in dem Worte AR-oma erscheint somit die Wurzel AR.

In jedem besseren deutschen Wörterbuche findet man außer dem Worte Art = Geschlecht, natürliche Beschaffenheit, Eigentümlichkeit, noch ein zweites Stichwort Art. Letzteres bedeutet "gepflügtes Feld", eigentlich die "Bebauung, die Bestellung mit dem Pfluge"; wir haben also in diesem AR-t wieder unsere Wurzel, desgleichen in den Ableitungen AR-t-bar = ur~ oder tragbar, AR-t-haft = pflügbar.

Dazu gehört das althochdeutsche Zeitwort AR-an, neuhochdeutsch (fast veraltet) ähren, ären, gleichbedeutend mit dem oben genannten englischen Worte ear, gotisch arjan.

So liegt in jedem der Worte, das wir hier vorgeführt haben, in der Wurzel AR die belebende Kraft, während alles übrige das Wort nur mehr formt und rundet. Und wie mit dieser Wurzel verhält es sich mit den übrigen. Die Völker unseres Sprachstammes waren in grauer Vorzeit ein einheitliches Volk und besaßen eine einheitliche Sprache. Diese ist längst nicht mehr. Wie man aber, um einen Vergleich zu ziehen, aus verhältnismäßig wenigen Überresten das römische Forum oder die Akropolis von Athen im Bilde rekonstruiert hat, so ist es mit Hilfe der vergleichenden Sprachforschung gelungen, die indogermanische Grundsprache wiederherzustellen. Von dieser löste sich nach und nach, und zwar in einer Zeit, die geschichtlich nicht erforscht werden kann, weil schriftliche Denkmäler fehlen, das Germanische los, das heißt, es traten in einem Teil des Indogermanischen sprachliche Veränderungen ein. Die übrigen Zweige blieben entweder frei davon oder unterlagen anders gearteten Veränderungen. Solche Veränderungen sind Lautverschiebung und Akzentuierung, z.B. griechisch patér, lateinisch páter, deutsch Vater (v=f); griechisch chortos, lateinisch hortus, deutsch Garten; griechisch génys, lateinisch gena, deutsch Kinn usw.

Nach der Loslösung von der indogermanischen Ursprache lebte das Germanische zunächst als einheitliche Grundsprache fort, entwickelte aber später drei Zweige: einen östlichen ( ost~ und westgotisch), einen nördlichen (schwedisch, dänisch und isländisch) und einen westlichen Zweig (anglofriesisch und deutsch).

Im achten Jahrhundert etwa erfuhr das Deutsche selbst wieder eine Veränderung, die Konsonanten betreffend, und diese ist es, welche die Trennung des Deutschen in das Hochdeutsche und Niederdeutsche bewirkt hat, z.B. niederdeutsch schap, hochdeutsch Schaf; bekannt sind endlich die auch in der Literaturgeschichte festgehaltenen Perioden der hochdeutschen Sprache: althochdeutsch, mittelhochdeutsch und neuhochdeutsch.