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Martertafeln

Von P. K. Rosegger. ( - Veröffentlicht 1879 im Heimgarten - )

Der Gebirgsreisende wird es kennen, dieses endlose Sterberegister von Verunglückten, durch das ihn seine Wanderungen führen und das ihm wohl zuweilen seine Lust an den Schönheiten der Natur vergällen mag.

Diese unscheinbaren Zeichen an Bäumen und Pfählen rufen dem harmlosen Wanderer, der gekommen, um sich an der Herrlichkeit des Gebirges zu ergötzen, ein ernstes: „Habt Acht!“ zu. Ein gewisses banges Gefühl der Ehrfurcht oder der Verlassenheit, das so Viele beschleicht, die zum ersten Mal in einer Alpenwildniß wandeln — es ist gerechtfertigt.

Die Täfelchen und Crucifixe, die an Wegen und Stegen, in Wäldern und auf Auen, in Thalschluchten und auf hohen Bergen stehen, prangen auf roth oder braun angestrichenen Pfählen; unbeschützt vor bösem Wetter erzählt das bunte Farbenbild des Dorfkünstlers nur wenige Jahre von dem Ereignisse,das zur Stelle geschehen war. Bald auch ist die Inschrift verblaßt und verwaschen, nur das kahle, moosiggraue Bretchen starrt uns an wie ein Sterbender, der noch gern sprechen möchte, aber es nicht mehr kann. Wohl sagt uns die Tafel, daß hier an der Stelle ein Unglück geschehen, ein Mensch vielleicht verging unter der Elemente Gewalt — aber wir wissen nicht, welcher Art das Ereigniß war — um so unheimlicher dünkt uns die Stelle.

Dem Aelpler wird dort, wo er begraben liegt, zumeist kein Denkmal gesetzt; klein ist die Zahl der niedrigen Kreuzlein, die den Gottesacker zieren; hingegen an der Stätte, wo ihn mitten in seiner Lebens- und Schaffenskraft plötzlich der Tod ereilt, richten ihm seine Mitmenschen ein Merkmal auf, durch welches sie dem Vorübergehenden mit Bild und Wort in rührender Naivetät die Todesart des Verunglückten erzählen und ihn schließlich um ein Vaterunser bitten für die arme Seele.

„Der Johann Georg Mosbichler's Sohn in der Ramsau, ist in seinem 21. Lebensjahr allhie von einem fallenden Baum erschlagen worden. Gott geb' ihm die ewige Ruh!"

„ist Michel Holzreuter, vulgo Knappenhans, durch einen Sturz über die sieben Klafter hohe Steinwand gestürzt, so daß kein Beindl an seinem Leib ist ganz verblieben. Kaum 30 Jahre lang hat er die Welt angeschaut, dann hat ihn der Herr zu sich genommen. Er bittet um ein andächtiges Vaterunser.“

„An dieser Stelle ist der Halter Thomas Grabner von einem Donnerkeil getroffen worden. — Der Menschen Loos ist hier beschieden, dem Tod entgeht doch nichts hienieden; denn Ort und Zeit hat Gott bereit; in Wasserfluthen und auf der Gassen, im hohen Birg und auf der Straßen geht Mancher in die Ewigkeit!“

„Hier ist der Handwerksbursch Christian Perger todt gefunden worden; was ihm überfahren, ist Gott bekannt, der seine Seel gnädiglich in den Himmel wolle führen.“

„Dahier ist Franz Keiter beim Holzriesen von einem Block in die Brust gestoßen worden, daß er augenblicklich todt ist gewesen.“

„Frommer Christ, schau in diesen Fluß hinein, da mußte das Leben der Maria Reg, vulgo Adlerwirthin in Kreuth, zu Ende sein. Sie ist über den Steg geglitten und thut um ein Vaterunser bitten.“

„Da, bei der Köhlerei ist der Josef Pfleger, 47 Jahre alt, in den glühenden Kohlenmeiler gestürzt. Der barmherzige Gott bewahre ihn und uns vor dem höllischen Feuer, Amen.“

„Hier hat die göttliche Fürsehung den siebzigjährigen Johann Filzmoser durch einen jähen Tod von dieser Welt abgerufen. — Vollbracht ist das Leiden, der Tod, das Gericht, nun ruhet er selig bei Jesu im Licht.“

„Wanderer, hier halt an, und denk', was auch dir geschehen kann, hier hat ein wildes Rind die ehrsame Magd Johanna Moser umgebracht. Jetzt ist sie in der Todesnacht; seid ihrer mit einem Vaterunser bedacht.“

Das sind einige Martertafelproben aus Steiermark. In ähnlichem Style erzählen die meisten dieser schlichten Denkmale ihr Ereigniß. Der Todesarten jedoch gibt es unzählige. Da ist Einer erfroren, oder vom Gießbach mit fortgerissen, oder von einer Lawine begraben worden. Ein Anderer hat sich im Nebel verirrt, ist über die Wand gefallen oder im tiefen Schnee umgekommen. Ein Dritter ist vom Baume gefallen, oder unter die Wagenräder gerathen, oder durch ein scheues Pferd geschleift worden. Durch rollende Steine werden Viele erschlagen; im grundlosen Alpensee findet Mancher sein Grab, der, ausgefahren auf spiegelglatter Fläche, von dem plötzlich hereingebrochenen Sturm überrascht worden ist. Auf Gletscherfeldern gehen Einheimische selten zu Grunde, hingegen fordern in manchen Gegenden die Wildschützen zuweilen noch ihr Opfer unter den Förstern und Jägern. Seitdem das Edelweiß ein beliebter Handelsartikel geworden iit, weist an wilden Felswänden manches Täfelchen die Stelle, wo ein gestürzter Edelweißsucher zerschmettert aufgefunden worden. Die Mehrzahl der unnatürlichen Todesfälle in den Alpen aber kommt bei den Bergknappen, Holz-, und Fuhrleuten vor. Ich möchte behaupten, daß von diesen Leuten wenigstens fünf Procent eines gewaltsamen Todes sterben.

Daher leicht erklärlich die zahllosen Martertafeln in den Alpen, die den Wanderer zuerst erschrecken, dann beklemmen, bis er sie gewohnt wird und über die Ursprünglichkeit der Volkskunst und Volkspoesie erheiternde Studien treibt.

Manches Dorf hat seinen Künstler. Es ist entweder ein Handwerker, der in freien Stunden die Kunst aus Liebhaberei betreibt, oder um sich damit ein kleines Taschengeld zu erwerben. In Tirol thuts der Herrgottlschnitzer, der vermag der Sache schon größere Vollendung zu geben. Diese Menschen betrachten ihren Gegenstand meist von so idealem Standpunkte, daß sie darob die ungeheuerlichsten Fehler ihrer Gestalten ganz und gar übersehen.

Ohne Malerei geht es nicht ab. Stets im Vordergrunde ist die Scene des Unglückes dargestellt. Da sitzt der Verunglückte etwa regelrecht auf den Wellen eines Flusses und breitet die Hände aus, an welchen ein sechster oder siebenter Finger nicht selten zu entdecken ist. Oder er steht kerzengerade und hölzern wie ein Soldat auf der Wacht, des Baumes gewärtig, der auf ihn niederstürzt. Oder er schwebt, von einem Felsen springend, in schönstem Wagrecht in der Luft und hat vielleicht sogar noch die Arme über die Brust gelegt, wie ich das auf einer Martertafel des Pusterthales sah. Wo aber das Arge bereits geschehen ist, da gibt es viel rothe Farbe um den Leichnam; je mehr Blut, desto bedauernswürdiger der Verunglückte. Ferner wird man über dem Haupte der Figur stets auch ein rothes Kreuzlein gemalt finden; dieses Kreuzlein zeigt an, daß der Arme bereits todt oder dem Tode sicher geweiht ist. Die Wasserwellen, die Bäume, die Felsen, die Wolken sind in architektonischer Regelmäßigkeit ausgeführt, und die stundenweit entfernt sein sollenden Berge sind gerade so scharf und grün gezeichnet wie der vom Künstler gedachte vorderste Punkt. Daß es aber durchaus keine gewöhnlichen Bilder sind, wie sie anderswo vorkommen, will ich beweisen.

Es gibt kaum eine Martertafel in den Alpen, auf deren Wolken nicht die Dreifaltigkeit oder die Mutter-Gottes oder eine andere Macht des Himmels säße. Oft ist es der Schutz-, oder Namenspatron des Verunglücken, der ein Strahlenbündel niedergießt auf den Sterbenden. Das soll, wenn schon diesseits keine Rettung mehr sein kann, die Hoffnung auf das Heil in jener Welt bedeuten. — Ach, es ist ja so praktisch und gut für uns Menschen, selbst in unseren schönsten Tagen praktisch und gut, die Hoffnung und das Ideal außerhalb dieser Welt zu verlegen; während wir hier Stück für Stück des Schönsten und Besten zu Grunde gehen sehen, leuchtet, gepanzert gegen alles Irdische, in unserer Seele bis ans Ende das trostreiche Bild jener Welt. So ist der letzte Gedanke des in den Abgrund Stürzenden oder in den Wellen Ertrinkenden oder unter der Staublawine endenden Bauers — das Himmelreich. Wolle das Geschick, wir hätten es Alle so gut!
Der Name „Martertafel“ selbst schon soll die den Leib gewaltsam zermarternde, unnatürliche Todesart andeuten.

Von der Votivtafel unterscheidet sich die Martertafel dadurch, daß sie immer das Denkmal eines Zugrundegegangenen ist, während die Votivtafel ein in Noth und Gefahr gelobtes bildliches Andenken sein muß, welches aus Dankbarkeit für die glückliche Rettung zumeist in Wallfahrtskirchen und Kapellen, zuweilen auch an der Stätte der überstandenen Gefahr aufgerichtet wird. Die Votivtafeln sind meist noch viel mannigfacher als die ersteren, behandeln ihren Gegenstand oft mit vielem Humor, geben aber stets für die glückliche Rettung in hochgeschwungenen Redensarten Gott und seiner jungfräulichen Mutter und den Heiligen die Ehre.

Die Wallfahrtskirche zu Mariazell in Steiermark ist wohl einer der größten Sammelkasten von Votivtafeln und gibt in dieser wie auch in manch anderer Beziehung unerschöpflichen Stoff für das Studium des Volkscharakters und insbesondere der Volksreligion.

Wir aber wollen wieder in die freie, wilde Natur hinaustreten zu den armen, aber so düsteren Denkmalen des Todes.

An Wegen und Straßen, die sich Flüssen entlang durch bewaldete Bergschluchten ziehen, können wir den meisten Martertafeln begegnen. Diese sind zuweilen auch zu Füßen eines Crucifixes an den Kreuzstamm geheftet. Oft hängt an einem Kettchen auch ein riesiger, stets mit Rost überzogener Eisennagel, der von den Andächtigen als einer der drei Nägel, mit welchen Christus ans Kreuz genagelt worden, geküßt wird. Ein andermal ist vor dem Pfahle eine Kniebank angebracht, auf daß dem erbetenen Vaterunser sogleich einige Bequemlichkeit geboten werde. Sehr häufig prangt die Tafel am Stamme eines buschigen Fichtenbaumes, und die Einsamkeit ringsum mit ihrem ewigen Rauschen des Wassers oder mit ihrem schwermüthigen Flüstern des Waldes oder mit ihrer tiefen Stille, die nur zuweilen durch das Rieseln der Steinchen in einer nahen Schutthalde unterbrochen wird, ergreift uns hier seltsam an der Stelle, wo ein Weilchen vor uns ein Mitmensch den Todeskampf gerungen hat.

Im wildherrlichen Ennsthale sah ich in der Nähe des brausenden Flußes ein Marterbildchen, welches einen hochgeschichteten Haufen von entschälten Baumblöcken darstellte. Auf dem Haufen obenan saß ein Mann, seine Tabakspfeife stopfend; über dessen Haupte aber war das rothe Kreuzchen, und an den Wolken nieder von der Figur des heiligen Sebastian strömte das Strahlenbündel auf den Mann. Der untere Theil der Tafel mit der Inschrift war abgebrochen. Um so genauer betrachtete ich das Bild, konnte aber nicht verstehen, was nur bei diesem Tabakspfeifenstopfen Lebensgefährliches obwalten konnte. Ein Bewohner der Gegend kam des Weges, den fragte ich nach der Bedeutung der Tafel.

„Ha, halt ja,“ antwortete der Gefragte, „da hat's halt den Bastl umbracht. Der Herr sieht die Holzriesen, die dort vom Wald herabgeht. Da haben sie die Holzblöcke herabgelassen in die Enns; die Enns schwemmt sie fort zu den Hieflauer Köhlereien hinaus, da brauchen wir sie nicht zu transportieren. Ist aber die Riese zu trocken gewesen, die Blöcke haben nicht den rechten Schwung gehabt, sind vor dem Wasser niedergefallen und liegen geblieben. Und wie zu Zeiten schon was sein will, hat der Holzer Bastl die Blöcke wollen nach und nach in den Fluß arbeiten. Wie er auf dem Haufen oben sitzt und ein bißl rastet, hebt euch die ganze Kramm an zu rutschen und zu rollen — der Bastl mitten drin. — „Herr Jesus, mit mir ist's gar !“ schreit er noch, die umstehenden Leut' wissen ihm nicht beizustehen, und der ganze Holzblockhaufen kollert in die Enns. Einer hat's gesehen, wie der Bastl zwischen den Holzstücken noch seine Hand aus dem Wasser gereckt hat — weiter haben sie nichts mehr von ihm gesehen. In der Hieflau unten beim Scheiterrechen haben sie ihn stückelweis herausgezogen.“

Eine Martertafel im oberen Murthal stellt einen Waldanger vor, auf den mitten im Grünen ein kohlschwarzer Fleck gemalt ist. Dieser Fleck soll eine tiefe Grube versinnlichen, wie man sie gern grub, um Wölfe darin zu fangen. Man verdecke das Loch mit Reisig und Stroh, legte ein Aas darüber, und wenn der Wolf dazu kam, so brach er durch und war gefangen. Üeber dieser Wolfsgrube nun auf dem Bilde steht das rothe Kreuzlein und geht der Heiligenstrahl nieder von der Dreifaltigkeit. Die Inschrift darunter heißt: „150 Schritt hier seitlings vom Weg ist auf einem nächtlichen Heimgang Peter Wieser, Knecht beim Bauer in der Leuten, den 13. Juli 1839 in die Wolfsgruben gefallen. Ein Thier ist darin schon gefangen gewesen, und von Weitem ist es gehört worden, wie der Peter Wieser mit der Bestie gerauft hat. Arg zerfleischt fanden sie ihn des Morgens — gestorben in seinem 56. Lebensjahr. Wanderer, stehe still und bete ein Vaterunser.“

Mitunter können Martertafeln auch zu was Anderem gut sein. In der Nähe eines Städtchens in Kärnten hart an der Straße fand ich eine Tafel, auf welcher sieben aufgebahrte Leichen gemalt waren und darüber der heilige „arme Lazarus“, der seine Strahlen auf die Todten warf. Die Inschrift lautete: „Ich und mein Weib und meine fünf Kinder, das Sterben thut weh, das Verhungern nicht minder. Bin der Schneider Zecke, Haus numro siebzehn; ich arbeite billig und nimm auch zum Flicken.“

Während wir vor anderen Martertafeln traurig und rathlos stehen und nichts zu thun vermögen, als höchstens das erbetene „Vaterunser“ zu sagen und die naiven Darstellungen zu belächeln — kann diesem Manne noch geholfen werden.

Und es kommt ja vielleicht die Zeit, da an den Bäumen, Pfählen und Felsen, die an Wald- und Gebirgsstraßen stehen und auf denen heute die Unglückstafeln hängen, bunte Affichen (Aushänge) prangen werden, einladend zum großen Warenlager von Jeiteles oder Rosenbaum in R., oder in's Hotel Schacher in S., oder zum Tingeltangel in W., oder man preist Haarwuchspomaden an, oder Malzextrakte, oder Mittel zur Wiederaufrichtung männlicher Kraft. Seit unsere Alpen ein Wildpark der Städter werden und man für naive religiöse Darstellungen der idealeren Gebirgsbewohner nur Spott hat, seitdem durch den Einfluß der Städte auch die Aelpler an Bedürfnissen aller Art zunehmen und zu verweichlichen beginnen — seitdem sehe ich die Zeit kommen, in der die Plakate und Annoncen in unseren Augen auch im Gebirge zu Martertafeln werden.