Die Ringstraßenzeit, also die Epoche zwischen dem kaiserlichen Entschluß zum Abbruch der Wiener Stadtbefestigungen 1857 und dem Beginn des Ersten Weltkriegs 1914, gilt als eine der glanzvollsten, kreativsten, friedlichsten und lebenswertesten der gesamten österreichischen Geschichte.
Beginnend mit 1858 wurden anstelle der Festungswerke etwa 850 Gebäude errichtet, darunter kulturelle Monumente wie die Staatsoper (damals Hofoper), das neue Burgtheater (damals Hofburgtheater), das neue Rathaus, das Parlament (Reichsrat), die neue Universität, die neue Hofburg, die Votivkirche, die Börse, das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museum, der Justizpalast, die Akademie der Bildenden
Künste usw. – sowie zahlreiche Palais.
Die Ringstraße gilt auch heute noch als einer der schönsten Prachtboulevards der Welt. Gemeinsam mit Habsburg-Nostalgie und Wiener Musikgeschichte bildet die Ringstraße einen der Hauptanziehungspunkte für Millionen von Wien-Touristen Jahr für Jahr. Diese können dann auch unter Hunderten von Büchern über Geschichte, Architektur und Kultur Wiens wählen, in denen das Leben des Adels, des wohlhabenden Bürgertums und natürlich des Kaiserhauses in den letzten Jahrzehnten der Monarchie beschrieben wird. Alleine über Kaiser Franz Josef und Kaiserin Elisabeth (Sissi) gibt es jeweils dutzende Werke.
Auch über die Künstler, die Industriellen, die Kaufleute, die Bankiers, die Militärs, die Handwerkermeister dieser Zeit wurde viel publiziert. Sie und ihr Leben sind heute also gut in der Erinnerung verankert. Aber von der großen Mehrheit der damaligen Bevölkerung Wiens weiß man relativ wenig. Nur sehr wenige Publikationen beschäftigen sich mit den Hunderttausenden Dienstboten, Gewerbegesellen, Hilfsarbeitern usw., die die große Mehrheit der Bevölkerung ausmachten. Von den ganz Armen, den Gelegenheitsarbeitern, mittellosen Witwen, den Invaliden und chronisch Kranken, den Straßenmusikanten und Bettlern ganz zu schweigen.
Um diese bedauerliche Lücke schließen zu helfen, hat Herr Sektionschef i. R. Dr. Helmut Walla dankenswerterweise viel Material zusammengetragen, darüber im Jahr 2015 einen hochinteressanten Vortrag bei unserer Familia Austria gehalten und diesen nun auch für unsere Schriftenreihe zu Papier gebracht. In Kombination von Fakten, Zitaten und Analysen mit zeitgenössischen Fotos und Zeichnungen entsteht so ein authentisches Bild, wie das Leben der „kleinen Leute“ „im Schatten der Ringstraße“ ausgesehen hat.
Das ist nicht nur zeithistorisch bedeutsam, sondern durchaus auch sozial- und wirtschaftspolitisch und letztlich sogar weltpolitisch. Denn als Reaktion auf diese tristen Lebensumstände im alten Wien, damals eine der größten Städte der Welt, kamen ja auch die sozialpolitischen Gegenmaßnahmen in Bewegung: Das Gewerbeinspektionsgesetz 1883, die Gewerberechtsnovelle von 1885 mit dem Verbot der Fabrikarbeit für Jugendliche unter 14 Jahren, das Verbot schwerer Arbeiten für Jugendliche unter 16 Jahren generell, das Verbot von Nachtarbeit für Frauen und Jugendliche, die Herabsetzung der Tagesarbeitszeit auf elf Stunden usw., das Unfallversicherungsgesetz von 1887 (ab 1889 in Kraft), das Krankenversicherungsgesetz von 1888 usw.
Und nicht zuletzt ist aus diesen Mißständen heraus ja auch die Arbeiterbewegung entstanden und aus dieser die Sozialdemokratie, die das Gesellschaftssystem grundsätzlich verändern sollte. Ein Begleitumstand war auch die Ausweitung des Wahlrechts auf immer weitere Gesellschaftsschichten bis zur Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts 1897, des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts 1907 und schließlich des allgemeinen Wahlrechts 1918.
Alle diese Entwicklungen kamen aus dem „Schatten der Ringstraße“.
Wir bedanken uns bei Herrn Dr. Walla für diese spannende Lektüre über ein vernachlässigtes Kapitel österreichischer Geschichte. Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen werden damit auch Näheres über die Lebensumstände der eigenen Vorfahren damals in Wien erfahren.
Günter Ofner April 2017
Präsident